Ann Kristin – Ronald McDonald Haus Sankt Augustin
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Ann Kristin – 17 Jahre, an Krebs erkrankt und lebenshungrig: >Ich will mein Leben leben!<

 

Ann Kristin ist 17 Jahre alt und sie besitzt eine Kette.

Nicht ungewöhnlich. Nur ist diese Kette kein Gold-Modeschmuck aus einer Boutique in der Innenstadt. Nein, diese Kette ist etwas ganz Besonderes: Sie ist inzwischen rund 4 Meter lang (Stand 24.06.25). Und die Kette wird immer länger. Sie wächst mit jedem Ereignis, mit jeder Hürde, jeder Herausforderung, die Ann Kristin im Laufe ihrer Therapie seit dem Tag ihrer Krebsdiagnose bewältigt. Die Kette ist bunt: Die sogenannten Mutperlen sind fast einen Zentimeter groß und oft gemustert oder bebildert. Ihre Kette startet mit einer Anker-Perle, die Hoffnung symbolisiert. Darauf folgt ihr Name: Ann Kristin. Es reihen sich gelbe Perlen für MRT-Aufnahmen daran, rote für Blutabnahme-Piekse; für eine Chemotherapie gibt es drei Perlen, eine davon mit Gesicht; die Perle für Bluttransfusionen erinnert an ein gedrehtes längliches Lakritz in rot-schwarz. Seltenere Perlen sind Symbole wie Krankenwagen für Krankenwagenfahrten oder ein Weihnachtsbaum für das größte Fest im Jahr.

Jede Perle steht nicht nur für ein Ereignis, sondern auch für jede Menge Erfahrungen und Emotionen, die damit einhergegangen sind. Die 17jährige traf die Diagnose im Oktober 2024 völlig überraschend. Nach einem Motorradunfall und Rückschmerzen suchten die Ärzte lange nach anderen naheliegenderen Ursachen, bevor sie einen tennisballgroßen Tumor im Schulterbereich feststellten. Es folgten Untersuchungen, Diagnosen, Bangen und Hoffen. Dann die Diagnose. Das Gespräch mit dem Arzt. Und dann hallte da nur noch ein Gedanke durch ihren Kopf >Ich will nicht sterben!<

Von heute auf morgen gibt es für Ann Kristin, die gerade die Oberstufe an einer neuen Schule begonnen hatte, keinen Schulalltag mehr – >ihr altes Leben<, wie sie es nennt. Sie beginnt eine ganz andere, neue Lebensphase – vielleicht sollte man sogar besser sagen >Überlebensphase<. Denn darum geht es in der Kinderklinik in Sankt Augustin für sie Tag für Tag. Einen Tag nach ihrem 17. Geburtstag wurde sie stationär aufgenommen. Für einen Geburtstag gibt es eine Smilie-Perle, für die Aufnahme auf der Station am nächsten Tag die blaue Sternperle. Nicht viel später folgt die blaue runde Perle für den Beginn der Behandlung. Offenherzig erzählt Ann Kristin, wie es ist, eine solche Therapie zu meistern. Zum einen das Körperliche, aber natürlich auch mental. Es ist nicht leicht, wenn die Ärzte einem sagen, dass diese Art Tumor zu 90% gutartig ist – bei dir aber nicht. Es ist nicht leicht zu hören, dass man eine seltene Form der Krebserkrankung hat, die dann nicht in gleichem Maße erforscht ist wie andere. Es ist nicht leicht, wenn es zu gefährlich ist, das Zimmer zu verlassen, weil man non-stop an Überwachungsmaschinen hängt. Es ist nicht leicht, wenn es zu gefährlich ist, Lebensmittel zu essen, die länger als 24 Stunden geöffnet sind, egal ob Butter oder Ketchup oder was auch immer. Es ist nicht leicht, wenn man die einzige 17jährige auf der Kinderstation ist zwischen Neugeborenen und Kleinkindern – immerhin gemeinsam mit einem weiteren Teenager, der nett ist.

Oft ist es für Ann Kristin auch zu gefährlich, Besuch zu bekommen wegen Ansteckungsgefahren durch Erkältungen und Co in deren Umfeld. Oder Ann Kristin ist in Isolation – auch dafür gibt es eine Mutperle: ein blauer Halbmond. Hinzu kommt, dass alles, was ihr bisher Freude bereitet hatte, plötzlich nicht mehr geht. >Ich koche total gerne und backe auch supergerne, aber das ist hier leider nicht möglich<, erzählt Ann Kristin. Das, was sie am meisten vermisst ist ihre Autonomie: selbst zu bestimmen, was sie wann, wo, wie machen möchte. >Du bist hier ständig im Wartemodus und abhängig von anderen. Das fiel mir vor allem am Anfang total schwer, weil ich meine Eigenständigkeit so liebe. Ich brauche meine Eigenständigkeit, aber die wird dir hier vom ersten Tag an total entrissen.< Zugleich ist sie wahnsinnig dankbar, dass alle so nett sind auf der Station, und dass sie hier in einer so familiären Atmosphäre gut aufgehoben ist. Am liebsten ist Ann Kristin auf der Silberinsel – im >Gemeinschaftsraum für Onko<. >Ich nenne das meine Zimmerflucht. In meinem Zimmer möchte ich am liebsten nur zum Schlafen sein!< Für all das gibt es keine Perlen. Aber an all das wird sie sich vermutlich erinnern, wenn sie später die Kette in ihren Händen hält.

Die Krankheit und mit ihr die Therapie gegen die Krebszellen verändert alles an und in ihr, unter anderem auch die Hormone, und damit auch das Fühlen, Wahrnehmen, Denken und natürlich auch den ganzen Körper. Da ist die eine Perle, die eine sehr herausragende Bedeutung für die Teenagerin hat: >Es ist superschwer zu verstehen, wie schwer erkrankt man ist, wenn man es nicht spürt. In der ersten Zeit ist das auch irgendwie gut, das ist dann wie ein Schutzmechanismus, dass man das verdrängt.< Aber während ihrer zweiten Runde der Chemotherapie kam das Schreckensgespenst, das durch alle Filme und Bücher geistert, auch zu ihr: Sie verlor ihre Haare. >Das ist das, was man mit dieser Krankheit verbindet.< Ann Kristin sitzt als wunderschönes und wahnsinnig offenes, warmherziges Mädchen, das eigentlich gerade dabei war Frau zu werden, mit kahlem Kopf vor mir (in einem Videochat). >Das Schlimmste war, dass ich in den Spiegel geschaut habe, und dann konnte ich mich selbst gar nicht erkennen. Das war nicht nur der Haarverlust. Ich sah so anders aus. Auch die Gesichtsform. Das war gar nicht mehr ich,< berichtet sie und man sieht noch immer die Traurigkeit darüber in ihren Augen. Die Haarverlust-Perle ist bunt mit einem schwarzen Punkt in der Mitte. Für ganz harte und düstere Tage fädelt Ann Kristin eine giftgrüne Perle auf. Die roten diamantförmigen Perlen hingegen dokumentieren: Heute war ein Supertag!

Inspiriert von Ann Kristins Kette gibt es seit Neuestem eine weitere besondere Perle: eine vom Ronald McDonald Haus. Sie steht für den Einzug und die vielen Aufenthalte ihrer Eltern im Haus, wenn Ann Kristin nebenan in der Kinderklinik therapiert wird. >Ich bin so froh, dass es das Haus gibt und dass meine Mama, meine Eltern, hier sein können. Zu wissen, dass da jemand in der Nähe ist, dem man vertrauen kann. Das ist so wichtig für mich. Obschon es mir manchmal schon fast zu viel ist mit meiner Mama“, lacht sie. Manchmal will man auch einfach mal zwei oder drei Stunden nur für sich sein. Aber das ist hier kaum möglich.<

Wenn ihre Blutwerte es zulassen, sind Aufenthalte in Sankt Augustin und zuhause in etwa in einem wöchentlichen Wechsel. Das Ronald McDonald Haus, vielmehr die vielen engagierten Menschen darin, hat Ann Kristin besonders in ihr Herz geschlossen. >Ich bin so unfassbar dankbar für all die lieben Menschen da und auch für die vielen Ehrenamtlichen, das ist so toll!< strahlt sie. Dienstag und Donnerstag sind Ann Kristins Lieblingstage. Der Grund ist einfach: Am Dienstagvormittag bringt ihre Mama immer etwas vom legendären Verwöhn-Frühstück mit und am Donnerstagabend vom 3-Gänge-Diner. Ihre Augen leuchten vor Begeisterung, weil das Krankenhauscatering keine Lebensfreude bei Ann Kristin auslösen kann. Im Gegenteil. Zwischendurch war die junge Krebspatientin so geruchsempfindlich, dass sie den Geruch des Essens dort kaum ertragen konnte. >Das Essen aus dem Ronald McDonald Haus hat echt meinen Körper gerettet!< lacht sie. >Hier beim Krankenhauscatering gibt es gerne mal Nudeln in allen möglichen Aggregatzuständen< berichtet sie unterhaltsam. Begeistert ist sie von den drei >supernetten Damen< von der Elterninitiative krebskranker Kinder in der Silberinsel. >Die machen hier einmal in der Woche Pommes für alle Kinder und einmal in der Woche backen sie Waffeln. Die haben hier auch endlich mal für Kartoffelpüree für uns Onkokinder gesorgt. Das ist einfach super, wenn man nicht kauen kann!<

Denn mit der Chemo kommen viele Nebenwirkungen, nicht nur der bekannte Haarverlust und die Übelkeit, nein, es gibt wunde Stellen an den Schleimhäuten im Mund und an der Zunge, die so heftig brennen, dass man gar nicht essen kann. Die Knochen tun weh, die Müdigkeit lähmt, ihre Haut an den Händen löst sich und wie alle anderen leidet auch sie unter sehr nervigen Verdauungsproblemen. Die Liste scheint schier endlos.

>Ich bin einerseits so fragil geworden – und andererseits so robust.< Sie wundert sich selbst: >Es ist krass, wie der Körper lernt, damit umzugehen und das auszuhalten.< Blutwerte mit einer unterirdischen Anzahl an Leukozyten, den weißen Blutkörperchen, die für das Immunsystem entscheidend sind, mit denen sie anfangs nicht mal hätte laufen können, bemerkt sie heute manchmal kaum.

Fünf verschiedene Chemo-Medikamente und ein Riesensack mit 8 Litern Flüssigkeit am Tag müssen durch sie hindurchfließen bei einem Chemoblock, der entweder 5 oder 7 Tage dauert. Danach darf sie bei gutem Zustand eine Woche nach Hause.

Eine Perle, die ihre Mama ihr mit ganz viel Liebe selbst gebastelt hat, ist Ann Kristins Lieblingsperle, >obwohl das die schlimmste Zeit überhaupt: die Eizellentnahme.< Die Eizellentnahme ist für die Heranwachsende die Chance, eines Tages vielleicht doch noch Kinder bekommen zu können. Ann Kristin erklärt, dass durch die Chemotherapie so viel kaputt geht im Körper, in gesunden Organen, und eben auch in den Geschlechtsorganen, dass später eine Schwangerschaft entweder für sie als Frau unmöglich oder zu gefährlich für das Baby sein kann. Das bedeutet, dass sich Ann Kristin schon jetzt mit ihrer weiteren Lebensplanung beschäftigen musste. Für sie stand fest, dass sie die Chance auf jeden Fall sichern möchte. >Eizellentnahme<: ein Wort – eine Perle? Von wegen. Denn auf Nachfrage berichtet Ann Kristin, was das Ganze praktisch heißt, und was sie und ihr Körper durchmachen mussten, damit eine Entnahme überhaupt möglich war. Sie bekam so eine krasse Hormontherapie. Das, was andere Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch in einem Monat verabreicht bekommen, um sie vorzubereiten, erhielt Ann Kristin in nur einer Woche. Ihr Körper wurde quasi von null auf hundert in den Zustand einer Schwangeren versetzt. >Überflutet mit Hormonen hatte ich Übelkeit, Hitze, Schweißausbrüche und Schlaflosigkeit. Ich saß hier im Dezember bei minus 2 Grad im T-Shirt und mit kurzer Hose,< erinnert sie sich und lacht. Und mit dem Hormoncocktail fuhren auch ihre Gefühle Achterbahn – nur leider gar nicht lustig. >Das war auch emotional so unfassbar hart!< erzählt sie. Noch heute empfindet sie den Eingriff und das, was vor der Narkose mit ihr passiert ist, als traumatisierend. >Aber dafür liegen jetzt irgendwo in Bonn meine kleinen sieben Zwerge. Das ist so so super und freut mich total!<

Während einer solchen monatelangen Behandlung 60 km vom Wohnort entfernt ist es nicht leicht mit Freundinnen und Freunden in engem Kontakt zu bleiben. >Aber mit manchen ist es sogar viel enger geworden, als vor der Krankheit. >Ich will einfach mein Leben wieder leben!< Ann Kristin schießen die Tränen in die Augen. Diese Sehnsucht überwältigt für einen kurzen Moment die so unglaublich starke und so offene, reflektierte und humorvolle Teenagerin. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, was sie alles durchmachen muss. Nicht nur die große Angst, das Gefühl verloren zu sein, das 24-Stunden-fremdbestimmt-leben, das Nicht-zur-Ruhe-kommen, weil immer irgendein Überwachungsgerät Alarm schlägt und vieles mehr. Stattdessen möchte sie wieder reiten, joggen und vor allem ganz viel Zeit mit ihren Freunden und ihrer Familie verbringen. Das hat sie früher jeden Tag gemacht, gemeinsam kochen, spielen, Spaß haben. Nicht an morgen denken. Stattdessen denkt die 17jährige an morgen und übermorgen und die nächsten Monate, die ihr noch bevorstehen. Sie hatte fast nie Angst vor irgendeiner OP, aber eine große Operation steht ihr noch bevor, die sie ängstigt. Bei der OP müssen auch ganze Rippen bzw Teile des Rippenknochens entfernt werden und die Ärzte sagten, in der Form, wie sie das hat, ist das selten. >Na toll, vielen Dank liebes Universum, dass du mir auch das noch geschickt hast!< kommentiert Ann Kristin mit einem ironischen Unterton. Und doch lässt sich hinter ihrem trockenen Humor auch eine andere Note heraushören: Es schwingt Traurigkeit mit. Da ist noch immer der Schock, dass im Herbst 2024 das Befundgespräch mit den Ärzten nicht wie die Untersuchung in der Neurologie, sondern in der Onkologie stattfand.

Warum erzählt Ann Kristin uns das alles so ehrlich und offenherzig? Weil sie möchte, dass die Krankheit und zum Beispiel das >Ohne-Haare-einkaufen-gehen< kein Tabu sind. „Man sieht die Blicke, man hört Kinder fragen und Eltern zurückzischeln, >Pssst<. Menschen beäugen sie, tuscheln oder machen im Supermarkt einen Bogen um sie herum. Anstatt sie anzusprechen und zu fragen. >Manche können mit der Krankheit gar nicht umgehen< erzählt sie. >Dabei kann diese Krankheit einfach jeden treffen. Bei mir war das auch nicht erblich bedingt oder so, sondern einfach durch eine Mutation, die einfach bei jedem Menschen passieren kann. >Aber auf das, was Menschen nicht kennen, reagieren sie mit Angst oder Abstoßung,< erklärt Ann Kristin. Und genau das ist ganz offensichtlich ein Schmerz, von dem sich Ann Kristin wünscht, dass künftige Patientinnen ihn nicht mehr erleben müssen. Wir bedanken uns an dieser Stelle ganz herzlich bei ihr für dieses persönliche Interview, den Einblick in ihr Leben während der Therapie und dass sie uns an ihrer Gedanken- und Gefühlswelt hat teilhaben lassen. Wir nennen diese Familiengeschichten auf der Website des Ronald McDonald Hauses „Mutmachgeschichten“ und wir hoffen, dass Ann Kristin mit ihrer Offenheit und ihrer persönlichen Geschichte, vielleicht auch mit diesem Interview, andere ermutigen kann, offen auf Betroffene zuzugehen.

Und welche Rolle spielt die Kette nach der Therapie? Die 17jährige und ihre großartige, unerschütterliche, liebevolle Mama, die immer voller Energie und Herzenswärme an ihrer Seite steht, sind sich beide sicher: Die Kette wird trotz der schlimmen Zeit am Ende eine schöne Erinnerung sein. >Liebe Ann Kristin, Danke für dein Vertrauen. Wir wünschen dir, dass du am Ende dieses Sommers eine weitere Mutperle auffädeln kannst, die blaue Blüte mit dem gelben Punkt: Therapie erfolgreich beendet.<

 

Mehr Informationen zum Konzept der Mutperlenkette, das die Deutsche Kinderkrebsstiftung aus den USA und den Niederlanden aufgegriffen hat.

26.06.26