Als die Familie im Juni 2017 mit ihrer kleinen Tochter Charlotte nach Hamburg gekommen ist, war ihre Welt schon längst nicht mehr so wie sie noch vor einem halben Jahr einmal war. Charlotte leidet an der bislang unheilbaren Krankheit Leukodystrophie. Am Universitätsklinikum Eppendorf sollte jetzt ein dreiköpfiges Ärzteteam nach vielen Untersuchungen entscheiden, inwieweit eine Knochenmarktransplantation die lebensbedrohliche Krankheit zumindest zum Stillstand bringen könne.
Charlottes Eltern, Katrin und Michael, waren sich sehr bewusst darüber, was es bedeutete, als die behandelnden Ärzte nach dem Gespräch das Zimmer verließen, um intern die Ergebnisse der Voruntersuchungen zu besprechen. Die folgenden zehn Minuten sollten über Leben und Tod ihrer Tochter entscheiden. Wie im Film rauschten noch einmal die vergangenen vier Monate durch die Köpfe der Eltern.
Eigentlich war Katrin im Februar 2017 nur zu einer Schuluntersuchung gegangen, um zu klären, ob ihre Tochter “Lotti“ bereits im Herbst eingeschult werden würde. Während der verschiedenen Tests stellte die Schulärztin fest, dass die 5-Jährige sehr wacklig auf den Beinen sei und empfahl, doch erst einmal eine Ergotherapeutin aufzusuchen. Die fragte die entgeisterten Eltern nach dem zweiten Termin, ob ihre Tochter einen Schlaganfall erlitten hätte. Es folgte ein Marathon an Untersuchungen und Tests in der Prof. Hess Kinder-Klinik in Bremen. Schnell hatte die Familie sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass ihre Jüngste wohl Leukämie oder einen Gehirntumor habe. Vermeintlich vertraute Begriffe, Erfahrungswerte von Freunden, Kollegen und Verwandten. Doch die Diagnose lautete schließlich “Leukodystrophie“, eine schwere Stoffwechselerkrankung, an der pro Jahr in Deutschland ca. fünf Kinder erkranken. Die Lebenserwartung liegt zwischen vier und sechs Jahren, in einigen Fällen kann sich die Krankheit aber auch zehn oder zwanzig Jahre hinziehen.
Unheilbar, ein Wort was nachhallt, aber mit viel Glück kann eine Knochenmarkstransplantation den Krankheitsverlauf zumindest stoppen. Mit der Knochenmarkstransplantation eng verbunden ist die Hoffnung, dass durch die neuen Stammzellen ein entscheidendes Enzym, das Charlottes Körper derzeit nicht selber produzieren kann, wieder selbst hergestellt werden kann. Damit wäre Charlotte zwar nicht geheilt, aber ihre Krankheit könnte zumindest aufgehalten werden.
Nach zehn Minuten interner Beratung teilten die Ärzte der Familie das Ergebnis mit: Ja, Charlottes Körper befand sich in einem verhältnismäßig guten Zustand, man solle auf jeden Fall eine Chemotherapie und anschließender Knochenmarkstransplantation wagen. Grenzenlose Erleichterung der Eltern, es gab eine kleine Chance auf Leben. Und diese Chance wollte die Familie auf jeden Fall ergreifen. Doch noch bevor es um die geeignete weitere Behandlungsmaßnahme und die Wahl einer Klinik ging, durfte Lotti alle ihre Freundinnen zur schon längst geplanten Pyjama- und Rote-Rosen-Party zu sich nachhause nach Schwarme einladen.
Denn Lotti sollte so viel Spaß wie nur irgend möglich haben. Das ist auch noch jetzt am Tag 28 nach der Transplantation die oberste Maxime der Familie: Das Leben und die Momente miteinander genießen, nichts mehr auf morgen verschieben und alles machen, was Spaß macht und sich in irgendeiner Weise machen lässt.
Die fast Sechsjährige musste bislang unter fast keiner der zum Teil massiven Nebenwirkungen leiden, die normalerweise mit einer Knochenmarkstransplantation einhergehen. Ihr Vater Michael beschreibt die letzten Wochen als einen Krankenhausbesuch mit ein bisschen Kopfschmerzen.
Schon knapp drei Wochen nach der Transplantation konnte Charlotte Anfang Juli aus der Klinik entlassen werden und lebt jetzt mit ihren Eltern und ihren beiden großen Brüder Till und Louis im Ronald McDonald Haus bis sich die Medikamente noch besser eingespielt haben. Lotti verbringt die meiste Zeit des Tages im großen Gemeinschaftsraum auf dem Sofa, dort ist ihr Stammplatz und dort ist es auch viel spannender als auf ihrem Zimmer. Manchmal sitzt ihr siebenjähriger Bruder Till mit auf dem Sofa und beide spielen eine Runde Computerspiel. Ihre Eltern achten beide aber auch darauf, dass ihre Jungs nicht zu kurz kommen. Michael Scholz hat mit Till schon fast die ganze Stadt erkundet, von Polizeimuseum bis hin zum Kaifu-Bad. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel haben sie während des G20-Gipfels vor dem Hamburger Atlantik Hotel gesehen als diese in die Parkgarage fuhr, zu viert war die Familie mit Lotti sogar schon eine Runde Kanu fahren auf der Alster.
Fast normale Familien-Ferientage. Und doch ist natürlich nichts normal. Genauso wie Katrin Scholz die eine oder andere Träne während Lottes Pyjamaparty unterdrücken musste, so schwer ist es jetzt auch im manchem Moment. Aber unterkriegen lassen möchte die Familie sich nicht. So wird viel gelacht und gescherzt in fröhlicher Runde. Katrin Scholz: „Wir machen alles, was möglich ist. Wir haben ja vielleicht kein später!“. Deshalb bekommt die Familie auch bald Zuwachs: Ein Hund ist geplant, Lottis größter Wunsch seit vielen Jahren. Aber die Familie hat noch einen anderen Wunsch: Dass sich bitte jeder, der diesen Artikel liest, als Stammzellenspender registrieren lassen möge. Damit möglichst vielen Kindern wie Lotti geholfen werden kann.
21.07.2017